Friedhof der Namenlosen (Selbstmörderfriedhof), Berlin

"Eines Mittags fuhr Amelie nach Wilmersdorf. Auf Höhe des Restaurants an der Landzunge hinter dem Stößensee stieg sie aus dem Bus, folgte zu Fuß der Havelchaussee, die an dieser Stelle einen Knick machte und vom Ufer wegführte. Nach ein paar hundert Metern bog sie in einen Waldweg. Amelie war aufgewühlt. Hin und wieder blieb sie stehen, horchte in die Tiefe des Waldes, aus der grelle Vogelschreie kamen. Wenn sie den Kopf hob, war zwischen den kahlen Stämmen der Kiefern nur grauer Herbsthimmel. Sie war erleichtert, als ein kleines vermodertes Holzschild an einer Abzweigung ihr den Weg wies.
Das Gräberfeld lag, eingefriedet von einer meterhohen Mauer, auf einer kleinen Anhöhe. Durch eine schwere metallbeschlagene Holztür gelangte man unter dem bogenförmig gemauerten Tor ins Innere des Totenackers.
Bei ihrer Suche nach Berliner Friedhöfen war Amelie auf diesen sonderbaren Ort gestoßen. Alte Schwarzweiß-Aufnahmen zeigten einen Friedhof mit wenigen schlichten Holzkreuzen inmitten von Bäumen und Sträuchern. Hier lagen die ans Ufer der Havel angeschwemmten Wasserleichen, die Selbstmörder, die unglücklich Verliebten und all jene, deren Tod für die Hinterbliebenen eine Schande und eine Erlösung war. Wenn Gewitterwolken vorbeizögen, höre man die Schreie und sehe die angstvollen Gesichter der Toten im Dunkel des Himmels. Amelie war überzeugt, dass das nicht die Verdammten und Verstoßenen, die wirklich Toten waren, sondern die Seelen der heimatlosen Geister, die den herbeigesehnten Tod noch nicht gefunden hatten. Wie diese vom Leben getriebenen Geister konnte auch sie kaum erwarten, in der Anonymität des Waldes verscharrt zu werden.
Amelie stand auf dem Friedhof der Namenlosen und war unschlüssig. Hinter einer Reihe einfacher Holzkreuze im dichten Efeu waren Steinplatten mit den Namen der Bestatteten und dem immer gleichen Sterbedatum: 1945. Gegenüber standen drei massive, orthodoxe Kreuze mit kyrillischer Inschrift. Das Martialische und Aufdringliche irritierte Amelie. Das Pompöse der Weltgeschichte hatte in ihrer Welt der Einsamkeit und des Schmerzes keinen Platz. Die Menschheit missachtete den Tod und beraubte ihn seiner Einmaligkeit. Amelies Verhältnis zum Tod war innig, diskret, sanft und zärtlich. Ihr Verhältnis zum Leben brüchig und zerrüttet. Unfähig, beides zu verbinden, war ihre Existenz ein Gefängnis, hinter deren Mauern sie am Ersticken war. Den Qualen eines sinnlosen, schmerzhaften Dahinvegetierens ausgesetzt, träumte sie von einem Reich der Ruhe und dem baldigen Übergang in den Zustand des Nichts, das sie, wenn sie in den Nachthimmel schaute, folgewidrig mit dem Universum gleichsetzte. Die Widersprüchlichkeit in Amelies Gedanken war nicht nur Teil ihres Widerstandes gegen ihr Dasein, sie war Zeichen der Unzulänglichkeit der Sprache und ihrer Unfähigkeit, ihre Gefühle zu erfassen. Es war die Sprache derer, die sich mit dem Leben arrangierten, geblendet von der Helligkeit des Tageslichts, die Zwischentöne des Dunkels nicht erfassen konnten. Amelie dachte in Bildern. Da Farben trügerisch waren, konzentrierte sie sich auf Schwarz und Weiß, wobei das Weiß einzig dem Nuancieren diente.
Zwischen den Bäumen, Hecken, Sträuchern, Stehlen und Findlingen waren vereinzelt schmutzige Stücke Wiese. Vielleicht lagen hier die Namenlosen? Im Niemandsland zwischen Wachsen und Vergehen, Erinnerung und Vergessen. Vorsichtig, fast ängstlich setzte sie einen Fuß nach vorne, lauschte, ob eine dieser toten Seelen sich unter ihrem Gewicht bewegte. Ihr Schritt wurde fordernder. Sie begann mit den Füssen zu stampfen, sprang mehrmals auf den harten Boden, um am Ende erschöpft niederzusinken. Mit beiden Händen griff sie in die Erde, krallte sich fest, schmiegte sich mit kreisenden Bewegungen immer dichter, bis sie ihr nah genug war, um den modrigen Geruch der Verwesung wie wohlriechenden Äther in sich hinein zu saugen. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit überkam sie. Sie hob den Kopf und ihr Blick öffnete sich auf einen Himmel aus schönstem Herbstlaub. Im schwindenden Licht des Abends erkannte sie die Konturen der sterbenden Bäume und mit der Gewissheit, eine Heimat zu haben, überkam sie eine glückliche Sehnsucht.
Sie wurde wach, als Stimmen aus dem Dunkel riefen, näherkamen und wieder verschwanden. Amelie folgte ihnen durch die Nacht mit ihren Träumen.
In den frühen Morgenstunden fanden Waldarbeiter sie schlafend auf einer Bank nahe dem Teufelsberg. Man legte ihr eine Decke um und da sie verwirrt schien, sprachlos mit großen leeren Augen vor sich hinstarrte, rief man einen Krankenwagen. Ihr Wille, frei über ihr Leben und ihren Tod zu entscheiden, machte, dass sie noch am gleichen Abend auf eigene Verantwortung nach Hause entlassen wurde. Nie war sie entschlossener, ihrem Leben ein Ende zu setzen. "
(Auszug aus: Fernand, M. Guelf, Der Ausnahmezustand, Passagen Verlag Wien 2020, S.71ff.)

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